Welten in Bewegung
Ding Dong! Die Hex’ ist tot… Die böse Hexe ist tot! Mit dem endgültigen Scheitern der letzten Verhandlungrunde scheint die WTO tatsächlich gestorben zu sein. Die ständigen Gipfelproteste um die Jahrtausendwende und darüber hinaus, sowie die sozialen Bewegungen, die sich um sie herum gebildet haben, waren wesentlich an ihrem Ableben beteiligt. Dennoch verspüren wir bis heute keinen allgemeinen Affekt des Sieges. Man kann sogar das Gegenteil behaupten: das ‚wir haben gewonnen’-Gefühl ist in den Jahren nach Seattle verschwunden und wurde bestenfalls durch Grübelei und kollektives In-sich-gehen ersetzt. Dann doch eher WTF (What the fuck?!) als WTO…
Vielleicht verstehen wir dieses Paradoxon besser, wenn wir soziale Bewegungen nicht als eine konkrete Ansammlung von Menschen betrachten, sondern als das Sich-Bewegen sozialer Beziehungen. Natürlich sind soziale Verbindungen immer in Bewegung: das Kapital versucht uns vorzumachen, dass es eine universelle und unveränderliche Lebensweise sei, obwohl sich diese sozialen Verbindungen jeden Tag wieder neu etablieren müssen – jedes Mal, wenn wir zur Arbeit gehen, oder Geld gegen Güter tauschen, oder auf entfremdete Art und Weise handeln, etc. Doch hin und wieder werden diese sozialen Verbindungen durch unsere Aktionen grundlegend herausgefordert, immer dann, wenn wir anfangen, neue Welten zu erschaffen. Einer der Orte, wo dies passiert sind Gegen-Gipfel: die neuen Welten, die wir dort erschaffen, mögen geographisch und zeitlich begrenzt sein (dies ist die Kritik am ‘Gipfel-Hopping’), doch genau diese Begrenzungen geben uns Raum zum experimentieren. Sie schaffen eine Intensität, die uns dazu befähigt zu sehen, wie sich soziale Verbindungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen bewegen. Die eine Ebene können wir ‘Forderungen’ nennen und die andere ‘Problematiken’.
Seid realistisch…
Forderungen sind ihrer Natur nach immer an etwas oder jemanden gerichtet. Es sind Forderungen an einen realen Staat oder an eine Situation. Sie können explizit sein – z.B. wenn wir an Regierungen herantreten und eine Gesetzesänderung oder die Wiederanstellung entlassener ArbeiterInnen fordern; sie können aber auch implizit sein – wenn wir zum Beispiel darauf bestehen, dass wir uns selbst besser überwachen können, als die Polizei das kann. Doch sie unterliegen zu einem gewissen Grad immer den Bedingungen, denen wir zu entkommen versuchen: wir akzeptieren dabei die Idee von ‘Arbeit’ oder die Idee von ‘Überwachung’. Wenn Forderungen tatsächlich erfüllt werden, geschieht das nur durch die weitere Reduzierung der Autonomie einer Bewegung. Staat oder Kapital gewähren eine Forderung nur, wenn sie zu deren eigenen Regeln und deren eigener Logik passt. So funktioniert Vermittlung: denkt zum Beispiel daran, wie die ‘grüne VerbraucherInnenbewegung’ als eine Lösung für den Klimawandel unterstützt wird. Die Aufnahme einer Forderung nimmt fast immer die Form eines Gegenschlages an – die Kosten für Aktionen gegen den Klimawandel werden immer auf uns abgewälzt (z.B. Maut, Ökosteuer). Deswegen, sei vorsichtig, was Du dir wünschst, denn…
Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht, nicht alle Forderungen führen immer zur Vereinnahmung von Bewegungen (‘größere Käfige, längere Ketten…’). Diese größeren Käfige geben uns mehr Raum zum agieren. Und wenn wir die Erfüllung unserer Forderungen nicht als Siege anerkennen, liegt das zum Teil daran, dass Forderungen auf dem uns fremden Terrain der Repräsentation funktionieren. Sie erscheinen uns als die Aktionen unserer Gegner, als das Produkt ihres guten Willens aber nicht unserer eigenen Aktivität. Aber wir müssen ein bisschen genauer hinschauen, um zu sehen, was hier tatsächlich passiert. In vielerlei Hinsicht bedeuten Forderungen auch das Einfrieren von (einer) Bewegung, einen Versuch uns einzufangen und zu repräsentieren. Aber als Kristallisierung unsere Bewegung tragen sie eben auch unsere Logik in sich, wie eine Fliege, die in einem Bernstein gefangen ist. Dies ist vergleichbar mit der Art und Weise, wie das Produkt unserer Arbeit an uns zurück verkauft wird: manchmal ist es schwer, die soziale Geschichte zu erkennen, weil sie unter der letzten Meldung der Regierung verschüttet liegt.
Es gibt einen zweiten Grund dafür, warum es uns schwer fällt, Siege die ihren Ausdruck in der Welt der Repräsentation, der offiziellen Politik, finden, tatsächlich als Siege feiern zu können. Der Prozess beinhaltet nämlich eine Zeitverzögerung: als wir 1999 durch Seattle stürmten und riefen “Weg mit der WTO!” hatten wir das Gefühl, wir hätten gewonnen, wir hätten die WTO in die Knie gezwungen, aber offiziell ging die WTO erst 2006 in die Knie. Wenn Forderungen endlich ‘erfüllt’ werden, haben sich Bewegungen schon längst weiterbewegt. Und das ist nicht nur eine Frage der Zeit: es hat auch etwas mit Geschwindigkeit zu tun. In intensiven Momenten, wie zum Beispiel den Gegengipfel-Mobilisierungen, können wir uns so unglaublich schnell bewegen, dass uns einige Tage wie Jahre vorkommen. Denkt daran, wie es sich anfühlt, an einem Convergence Centre oder einem Camp anzukommen: am Anfang ist es nur ein nichts-sagendes Feld auf dem wir uns mit Mühe und Not zu orientieren versuchen, doch nach einigen Tagen haben wir dieses Feld in eine neue Welt verwandelt.
…fordert das Unmögliche!
Forderungen sind allerdings nur ein Aspekt sozialer Bewegungen. Sie sind zwangsläufig einseitig und parteiisch, denn sie funktionieren auf einem anderen Terrain als dem unseren. Hier interessiert uns mehr die Bewegung auf der Ebene der ‘Problematiken’. Anders als bei den Forderungen, die notwendigerweise verbal und statisch sind, geht es bei Problematiken um Aktion und Bewegung. Wenn Forderungen ein Versuch sind, das festzuhalten, was wir sind, dann geht es bei Problematiken eher darum, was wir werden.
Soziale Bewegungen bilden sich um Probleme herum. Das meinen wir nicht im Sinne einer simplen funktionalistischen Erklärung, in welcher ein bereits bestehendes Problem eine soziale Bewegung hervorrufen würde, die dann wiederum den Staat oder das Kapital dazu zwingt, das Problem zu lösen. Im Gegenteil, soziale Bewegungen produzieren ihre eigenen Problematiken und werden gleichzeitig von ihnen geformt. Wie funktioniert das in der Praxis? Zuerst braucht es einen Bruch, der ein neues Problem erzeugt, eines, dass nicht in das ‘Verständnis’ jener Gesellschaft passt – das ist das Sandkorn, um das herum sich die Perle bildet. Ein Beispiel ist der Aufstand der Zapatistas, aber wir könnten uns genauso gut auf den Klimawandel oder Migrationskämpfe beziehen. Mit diesem Bruch entstehen ganz neue Fragen, neue Probleme, die keinen Sinn ergeben und für die es keine einfache Lösung gibt. Durch den Versuch, diese Problematik zu formulieren, erschaffen wir neue Welten. Das ist es, was wir mit ‘Worlding’ (Welt-erschaffen) meinen: indem wir eine andere Welt ins Auge zu fassen, indem wir in einer anderen Welt handeln, rufen wir diese Welt hervor. Nur wenn wir (zumindest teilweise) aus dem ‘Verständnis’ der alten Welt ausgebrochen sind, kann eine neue Welt ihren eigenen Sinn ergeben. Zum Beispiel Rosa Parks, die sich einfach weigerte, sich in den hinteren Teil des Busses zu setzen. Sie forderte nichts, sie leistete keinen Widerstand, sie handelte einfach in einer anderen Welt. Genauso funktioniert die ‘Anti-Globalisierungs Bewegung’: kaum waren wir als sozialen Kraft entstanden, definierten wir uns schon als ‚Bewegung für eine anderen Globalisierung’ (alter-globalisation movement) um. In vielerlei Hinsicht befanden wir uns in einer neuen Position, in der wir niemanden hatten, an den wir unsere Forderungen hätten stellen können. Wie hätten wir anders handeln können, außer uns eine andere Welt (oder Welten) zu schaffen? Und wer würde sie erschaffen, wenn nicht wir selbst? Doch zuerst müssen wir dieses ‘Wir’ erschaffen…
‘Soziale Bewegungen haben kein ‘Recht’ auf Welt. Jede autonome Problematik bringt sie automatisch in die Sphäre des ‚revolutionär-werden’. Und diese Problematik kann sowohl durch ein ‘Nein’ als auch durch ein ‘Ja’ entstehen. Aus der Perspektive des Kapitals sind autonome Forderungen immer partiell und einseitig (sogar ‘egoistisch’), denn wir weigern uns, seine Logik zu berücksichtigen. Es gab einen großartigen Augenblick in der Englischen Revolution in den 1640ern, als die Levellers (GleichmacherInnen) mit ihren Forderungen nach Gleichheit die Welt auf den Kopf zu stellen drohten. Sir Thomas Fairfax, Oberbefehlshaber der Armee fragte sie: ‘Mit welchem Recht und mit welcher Befugnis stellt ihr diese Forderung?’ Zuerst nur Stille, dann antworteten sie: Mit der Macht des Schwertes, Meister Fairfax, mit der Macht des Schwertes.’ Über drei Jahrhunderte später, auf dem Höhepunkt der Anarcho-Punk Bewegung formulierte die Band Crass dies mit direkteren Worten in ihrem Text: ‘Schulden sie uns ein Leben? Klar tun sie das, verdammt!’
Und hier kommen wir zur Ebene der Forderungen zurück, der Kristallisierung, denn der Prozess, in dem wir diese neue Kraft (dieses neue ‘Wir’) zu schaffen, schließt auch das Handeln auf der Forderungs-Ebene ein, und dieses Aspekt kann tatsächlich sehr produktiv sein. Der Bruch selbst kann die Form einer Forderung annehmen, vielleicht die eines einfachen ‘Nein!’ Dies kann einer Bewegung eine Identität geben, eine klare Position, um die herum Menschen sich orientieren können – das öffentliche Abstecken eines Raumes, innerhalb wessen sich eine soziale Bewegung formieren kann. Genau das geschah in den letzten zehn Jahren bei Gipfelprotesten. Viele von uns waren nicht in Seattle, aber dort wurde eine Identität geschaffen, die für uns Sinn machte. Diese Identität wurde in Göteborg, Cancun, etc. gestärkt und vertieft. Mit anderen Worten, Gipfelproteste waren nicht nur bewusste Versuche die Treffen der Reichen und Mächtigen zu delegitimieren. Sie legitimierten gleichzeitig auch unsere Welten und schufen Raum für Welten, die von anderen Logiken als der des Kapitals und des Staates bestimmt werden. Gipfelproteste spielten eine große Rolle in der Erschaffung eines neuen ‘Uns’, eines erweiterten ‘Wirs’.
Vielleicht eine andere Art dies zu betrachten ist in bezug auf die Frage von ‚Maß’. Forderungen bewegen sich in einem Feld der Gewissheit, in einem ‚extensiven’ Bereich. Es ist der Bereich der “Dinge”, die definiert, gezählt, verhandelt und aufgeteilt werden können. “Sie wollen eine 0.25% Steuer auf alle Währungstransaktionen? Wie wärs mit 0.1%? Oder nur innerhalb der G8?” usw. usw. Sie sind notwendigerweise statisch, deshalb sind sie so einfach zu messen und zu fassen. Problematisches, auf der anderen Seite, bewegt sich in einem Reich von sich bewegenden Wünschen und Subjektivitäten. Dies sind dynamische Prozesse die unteilbar sind, und in diesem intensiven Aspekt geschehen Veränderungen. Denkt an eine Demonstration: sie kann gemessen werden anhand der Zahl der Teilnehmenden, oder des Wertes des Sachschadens der dabei angerichtet wurde. Zahlenmäßig ist eine Demonstration von 5,000 halb so wirksam wie eine mit 10,000 Menschen. Aber die Menge an Wut, oder das Gefühl der Stärke, oder das Ausmaß der Kollektivität sind Intensitäten die nicht auf dieselbe Weise gemessen werden können.
Wenngleich auf einem anderen Niveau, so waren wir während der Aktionen gegen den 2003 G8 Gipfel doch auch ein Teil genau dieses Prozesses, als es in Saint-Cergues zu einer massiven Straßenblockade kam: das ‘Nein!’, das die Barrikade an der Frontlinie artikulierte, öffnete einen Raum, in dem ein neuer Körper zusammen kommen und sich verstetigen konnte. Wir erschufen neues Wissen (Taktiken, wie man mit Tränengas und Pfefferspray umgeht), wir entwickelten neue Wege der Entscheidungsfindung (wie man Nahrungs- und Wasservorräte einteilt, wie und wann man sich zurückziehen würde) und wir weiteten die Problematik aus (blockierten Seitenstraßen, traten mit Anwohnern in Kontakt).
Der Schritt von Opposition zu Kreation, von der Forderungs-Ebene zum Problem der Praxis, fällt nie leicht. Die britische Bewegung gegen die poll tax (Kopfsteuer) zum Beispiel hat es nie geschafft ihre eigene autonome Stabilität zu finden – als die Regierung 1991 endlich nachgab, brach die Bewegung auseinander. Wir waren durch unser gemeinsames ‘Nein!’ zusammen gehalten worden – so konnten wir zusammen stehen – doch ohne ‘Jas’ waren wir einfach bewegungsunfähig. Gleich problematisch ist es aber auch, die Forderungs-Ebene ganz umgehen zu wollen. Die Kritik an der Mobilisierung zum G8 Gipfel 2005 war, dass wir uns zu leicht von einer staatlich angeleiteten Kampagne (Make Poverty History) ausmanövrieren ließen, die dazu genutzt wurde ‘in unserem Namen’ Forderungen zu stellen.
Die Bewegung gegen die poll tax (Kopfsteuer) gilt als die größte Massenbewegung in der britischen Geschichte. An ihr waren 17 Millionen Menschen beteiligt. Über ca. 18 Monate weigerte sich diese Bewegung ihre Rechnungen zu zahlen, woraufhin einen Monat lang vor den Rathäusern demonstriert wurde und es im März 1990 zu Ausschreitungen kam.
Jede Bewegung muss notwendigerweise Dinge in Betracht ziehen, die außerhalb ihrer Selbst liegen, wie die Aktionen des Staates oder den Einsatz von Polizeihubschraubern in Saint-Cergues. Wir bewegen uns also als Reaktion auf neue Entwicklungen, um zu vermeiden, vereinnahmt zu werde. Es gibt aber auch eine interne Dynamik, die ihren Ursprung in dem neuen Material hat, das sich um das ursprüngliche ‘Sandkorn’ gebildet hat. Dieses neue Material hat seine eigenen neuen Eigenschaften und könnte auf neue interne Problematiken produzieren. Auf der Makro-Ebene fallen uns hier Debatten über den Schwarzen Block oder die Gewaltfrage nach Genua ein, wo viele neue Fragen gestellt wurden und sich alles vorwärts bewegte. Oder denkt daran, wie die Idee der Convergence Centres bei Gipfelprotesten weiterentwickelt wurde, indem die Idee des sozialen Zentrums, egal ob gemietet, gekauft, oder besetzt, damit in Verbindung gebracht wurde. Diese Zentren bieten einen Raum (wenn auch nur vorübergehend) in dem sich Bewegungen verdichten und damit beginnen können eine Stetigkeit zu entwickeln.
Unter dem Pflaster…
Aber es gibt hier noch ein größeres Problem. Es besteht eine Verbindung zwischen unseren autonomen Bewegungen (Schaffung neuer Formen, Aufwerfen neuer Problematiken, etc.) und den Effekten, die solche Bewegungen auf das Kapital, den Staat und ihre Mechanismen der Vereinnahmung haben. Es besteht die Gefahr, dass wir in diesem Zusammenhang gefangen bleiben und uns nie mehr befreien können. Wir können der Vereinnahmung nie komplett entgehen, aber wir können versuchen, Techniken zu entwickeln, die sie verzögern oder minimieren können. Und genau hier haben sich Gegengipfel bewährt.
Im täglichen Leben ist es ziemlich einfach die Welt der Forderungen, der Dinge zu sehen, aber es ist schwieriger zu verstehen, was darunter vor sich geht. Während spektakulärer Ausbrüche (Paris 1871, Barcelona 1936, Seattle 1999, Oaxaca 2006…) können wir einen flüchtigen Blick auf die grundlegende Dynamik werfen, oder dadurch, dass wir die Forderungs-Ebene betrachten und sehen, was in der Presse über uns geschrieben wird, oder wie der Staat handelt. Gipfelproteste können das Gleichgewicht des Alltags erschüttern und diesen intensiven Raum zum Leben erwecken. Dann können wir Konsumgüter so sehen, wie sie sind – tot. Wir beginnen zu verstehen, dass das, was wir tun, die Realität ist: das ist das Leben. Und wir können leichter erkennen, woraus soziale Bewegungen bestehen. Dies hat tiefgreifende Konsequenzen. Es wird immer offensichtlicher, dass unsere Bewegung nicht aus ‚uns’ besteht (AktivistInnen gegen andere), sondern im Gegenteil eine Bewegung von sozialen Beziehungen ist, ein Aufbrechen all dessen, was starr ist. Diese Bewegung sozialer Beziehungen ist wie das Brechen einer Eisscholle: sie hat keine Kanten oder Grenzen (‘diese Gruppe gehört zu unserer Bewegung, diese Gruppe nicht’ etc.), oder vielmehr, diese Grenzen sind ständig in Bewegung; die Bewegung setzt sich überall hin fort – wirklich überall hin. Das ist das Affekt des Sieges, den wir in Seattle und anderswo erlebten. Wir hatten das Gefühl, zu gewinnen, weil wir nicht mehr ‘Wir’ waren; vielleicht hatten wir sogar die Idee eines ‘Wirs’ aufgegeben, weil es kein Außen mehr gab, kein ‘wir’ und ‘sie’. Die Tatsache, dass das ‚Wir’ sich immer wieder verändert, sehen wir auch in diesem Text wiedergespiegelt: die Bedeutung des ‘Wirs’ bewegt sich von ‘wir die AutorInnen’ zu ‘ihr, die LeserInnen’ hin zu einem erweiterten ‘wir’, das allen Versuchen trotzt, es zu fixieren. Außerdem kann das, was wir tun nicht darauf beschränkt werden, was bewusst beschlossen wurde: manchmal ‘tun’ wir Dinge auch hinter unserem eigenen Rücken.
Doch dieses Zerschlagen des Alltags schafft auch neue Brüche, neue Absprungspunkte. Und dies kann für uns eine Chance sein, den zwei Vereinnahmungsapparaten des Staates zu entkommen. Auf der Ebene der Forderungen versucht der Staat uns in seine Denklogik einzugliedern. So zum Beispiel der Versuch der Polizei, das besetzte Klimaaktions- Camp in seine eigene Logik von Legalität einzugliedern, indem sie uns anboten ‘nützlich’ zu sein und nur einen kurzen Spaziergang über das Gelände zu machen. Zuerst wurde dieses ‘Angebot’ angenommen, da das Camp ein gewisses Gefühl von Sicherheit brauchte. Doch auch das hatte seinen Preis: wenn wir uns auf ein Terrain der Gesetzmäßigkeit begeben (egal ob ‘legal’ oder ‘illegal’), bewegen wir uns auf ihrem Terrain, nicht unserem. Der Polizei zu erlauben das Campgelände zu betreten schuf einen Präzedenzfall und es war fortan nicht mehr möglich die andauernden Patrouillen ohne einen ganz neuen Bruch abzulehnen. Wenn wir diesen Bruch initiieren und der Logik der immer tiefer gehenden Problematik folgen, stoßen wir auf unseren Gegenpol, die staatliche Repressionsmaschinerie. Wir laufen Gefahr uns von dieser Zange Eingliederung/Repression gefangen nehmen zu lassen, und jede Antwort darauf lenkt uns von unseren eigenen autonomen Bewegungen ab.
Das Camp for Climate Action (Klimaaktionscamp) fand im Sommer 2006 in der Nähe von Selby in Yorkshire, Großbritannien statt. Mehr Informationen darüber findet ihr hier
Hier kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: das Problem, vor dem wir immer und immer wieder stehen, ist das Risiko als radikale ReformerInnen, GipfelprotestiererInnen, Arbeitsplatz-AktivistInnen und ähnliches von der Logik des Kapitals und des Staates vereinnahmt zu werden. Das Kapital sieht seine eigenen Grenzen immer als universale Grenzen an, doch in Wirklichkeit sind diese Grenzen ‘ihre’, nicht unsere. Die einzige Möglichkeit für autonome, soziale Bewegungen, diesen Todestanz zu umgehen, ist es, neue Wege zu beschreiten. In diesem Sinne ist das Gewinnen auf der Ebene der Problematiken nur der Gewinn erweiterter Problematiken, da sich durch unsere Experimente immer weitere Horizonte öffnen. Oder einfacher gesagt, das einzige, was für Bewegungen bei einem ‚Sieg’’ herauskommt, ist mehr Bewegung. Und deshalb zieht es uns immer wieder zurück zu den Gegengipfeln wie dem in Heiligendamm: sie sind Orte, an denen die Bewegung der Bewegungen ihre eigenen Grenzen durchbrechen und ihre eigenen Fragen stellen kann.
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Alex, Brian, David, Keir, Nate und Nette arbeiteten frei assoziiert an diesem Artikel mit, doch es halfen auch noch unzählige andere Menschen, vor allem Menschen vom CommonPlace Sozialzentrum in Leeds, GB (www.thecommonplace.org.uk). Wie immer erreichten uns auch Ideen aus allen Ecken. Einige unserer Quellen sollten auf jeden Fall genannt werden. Das einleitende Zitat stammt von ‘Biggest victory yet over WTO and “free” trade. Celebrate it!’ von Olivier de Marcellus ( http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/wto/news/2006/0817biggest_victory_wto.html). Die Konzepte ‚extensiv’ und ‚intensiv’ stammen aus Deleuze und Guattaris A Thousand Plateaus. Paul Hewsons Artikel in Shut Them Down! ist ein genauer Bericht über die politischen Machenschaften hinter Make Poverty History und die Lektionen, die daraus gezogen werden können ( http://www.shutthemdown.org). Der Dialog zwischen Fairfax und den Levellers ist aus Ian Bones brillantem Bash The Rich (Tangent Books) entnommen. Kommentare, Kritik und Kommunikation sind willkommen
Quelle: http://www.all4all.org/2007/05/3120.shtml